Stefan Winkle wollte & Eugen Haagen              konnte keine Psittacose-Erreger liefern

Mit der Entdeckung fast aller deutschen Dokumente zur biologischen Kriegsführung gelang der Alsos-Mission ein ertragreicher Coup. Bei der Interpretation der erbeuteten Unterlagen unterliefen der Mission gelegentlich Fehler, beispielsweise bezüglich der Rolle des führenden deutschen Virologen Eugen Haagen. „Wenn es [in Deutschland] irgendwelche wichtige Vorbereitungen zur bakterio­lo­gischen Kriegs­­führung gegeben hätte, wüsste Haagen höchst wahrschein­lich davon“ meinte Samuel A. Goudsmit, einer der leitenden Experten der Mission. Entsprechend wurde 1945 in einer – vermutlich von Alsos erstellten – Liste deutscher Rüs­tungs­experten unter anderen Haagen als „Chef der BW“[-Aktivitäten] erwähnt, mit der Bemerkung: „Kennt BW-Pläne. Entwicklung und Einsatz von Vakzinen [gegen] Gelbfieber, Fleck­­­­­­­fieber, Influenza“. Tatsächlich hatte er nach seiner Be­rufung an die „Reichsuniversität Straßburg“ in Natzweiler und anderen Konzen­tra­tionslagern Menschenversuche mit einem von ihm entwickelten neuen Fleckfieberimpfstoff durchgeführt. Mit biologischer Kriegsführung hatten sie aber nichts zu tun.

Haagen geriet im April 1945 in amerikanische Gefangenschaft, wurde aber schon wieder im Juni 1946 entlassen, nach Saalfeld, also in die Sowjetische Besatzungszone. Von dort zog es ihn ins benachbarte Jena, wo seine ehemalige medizinisch-technische Assistentin Brigitte Crodel eine Stelle am Hygienischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität gefunden hatte.

 

Eine Psittacose-Zentrale in Jena?

Dessen Direktor war Stefan Winkle, der wie Haagen zuvor am Robert Koch-Institut gearbeitet hatte. Der war einen Monat vor Haagens Eintreffen von der Sowje­ti­schen Militäradministra­tion (SMA) angewiesen worden, in seinem Institut umgehend eine Psittakose-Zentrale einzurichten. Winkle war dafür bestens geeignet: Vor seinem Weggang nach Straßburg hatte ihn Haagen in die Diagnostik der Psittakose eingearbeitet.

Raum für eine solche Einrichtung war im Jenenser Hygiene-Institut auch vorhanden. Alle notwendigen Geräte sollten in kürzester Zeit zur Verfügung ge­stellt werden. Winkles bisher leider unveröffentlicht gebliebenen Erinnerungen zufolge, aus denen ich zitieren darf, kamen tatsächlich innerhalb weniger Tage die Ein­rich­tungs­gegenstände für die neue Einrichtung auf zwei großen Lkws. Dazu gehörten zwei Brutschränke, ein Autoklav, eine Laborzentrifuge, eine Ultrazentrifuge, ein Kühlschrank und zwei Mikroskope. Selbst für den Einbau einer Schleuse wollte man sorgen.

Gleichzeitig wurde Winkle aufgefordert, sich bei den einschlägigen Einrichtungen – dem Robert Koch-Institut, dem Paul Ehrlich-Institut und bei den bakterio­lo­gi­schen Universitätsinstituten – um die Beschaffung eines Stammes der Psittakose-Erreger zu bemühen. Da die für die moderne Diagnostik der Papageien-krankheit schon zu dieser Zeit überhaupt nicht notwendig waren, und Schleusen auch nicht, schloss Winkle, dass es den Sowjets nicht darum ging, die Menschen in ihrer Besatzungszone vor einer exotischen Krankheit zu schützen, sondern um in den Besitz eines potentiellen biologischen Kampfmittels zu kommen. Das wollte er verhindern.

Alle in dieser Angelegenheit angeschriebenen Institute übermittelten Fehl­mel­dun­gen – bis auf das Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt am Main. Dort war man auch bereit, Winkle eine Abimpfung von C. psittaci zur Verfügung zu stellen. Daraufhin ordnete die SMA  an, dass ein Mitarbeiter des Jenenser Instituts unverzüglich mit einem Auto nach Frankfurt fahren und dort die Erreger abholen sollte.

Winkle sabotierte das.  Er ließ tatsächlich einen Mitarbeiter nach Frankfurt am Main fahren – und mit der Botschaft zurückkehren, der angebotene Erreger sei inzwischen eingegangen. Ein eigens aus Moskau angereister Experte, der angeblich in die Psitta­kose-Diagnostik eingearbeitet werden wollte, musste erfolglos zurückreisen. Wieder fuhren Lastwagen vor dem Institut vor und Sowjetsoldaten und Jenenser Laboranten mussten die Geräte wieder demontieren.

Die Jenenser Psittacose-Zentrale war dank des mutigen, bisher kaum gewürdigten Einsatzes von Stefan Winkle Geschichte.  Nicht aber die sowjetischen Bemühungen um den Erreger.

 

Eugen Haagen würde gern für die Russen arbeiten

Zur gleichen Zeit, als Winkle erfolgreich verhindert hatte, dass die Sowjets in den Besitz eines potentiellen biologischen Kampfmittels kamen, tauchte der aus der Gefangenschaft entlassene Eugen Haagen in Winkles Institut auf. Brigitte Crodel erzählte ihm von dem großen Interesse der Russen an Psittcose-Erregern. Haagen bat Winkle um entsprechende Vermittlung, er „würde gerne als Virologe für die Russen arbeiten. (...) Wovon soll ich denn leben, wenn ich wie ein Fechtbruder mittellos dastehe?“ Als bald darauf ein Kontakt zustande kam, sagte Haagen dem SMA-Vertreter, er habe gehört, dass sie an Psittakose-Erregern interessiert seien, dass aber keine beschafft werden konnten. Er könne helfen, da es ihm gelungen sei, die Chlamydie auch aus Möwen zu isolieren.

Die Sowjets reagierten nach Winkles Erinnerung „wie von einem elektrischen Schlag ge­trof­fen“ und fragten, ob die Stämme noch existierten. „Nein“, habe Haagen erwidert, ‚die sind längst eingegangen. Aber wenn ich ein Labor hätte und eine Mitarbeiterin, wie Fräulein Crodel, und wenn man mir eine größere Anzahl tiefgekühlter Ostseemöwen besorgen würde, könnte ich innerhalb von drei bis vier Monaten garantiert wieder einige Psittakose-Stämme isolieren.“ 

 

Kein Biowaffeninstitut in Berlin Buch

Daraufhin wurde sofort das Hauptquartier der SMA in Berlin-Karlshorst informiert und dort auf Anhieb entschieden, Haagen und Crodel bereits anderntags nach Berlin-Buch zu einer ersten Kontaktaufnahme holen.

In Buch werde er „ein Forschungslabor mit allem Drum und Dran erhalten“.In Buch gab es ja das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, das am 21. April 1945 von sowjetischen Truppen besetzt worden war, aber unter Kontrolle der SMA weiterarbeiten konnte. Dort wurden nun die die räumlichen und arbeitsmäßigen Voraussetzungen für ein neues, von Haagen geleitetes „Institut für Virus- und Geschwulst-forschung“ geschaffen.

Haagen und Crodel zogen im Oktober 1946 nach Berlin und konnten ihre Tätigkeit in Buch aufnehmen. Die dabei anfallenden Umbau­kosten in Höhe von 5-600 RM wurden allerdings nicht von der SMA übernommen, sondern der erst kurz zuvor gegründeten Deutschen Akademie der Wissen­schaften zu Berlin in Rech­­nung gestellt. Der wurde die „von der SMA in Deutschland in den Jahren 1945-46 ausgestattete und wiederher-gestellte“ Einrichtung unter der Bezeichnung „Medizinisch-biologisches Institut“ am 4. Juli 1947 übergeben.

Von dem kurzzeitig existierenden Institut für Virus- und Geschwulstforschung war in diesem Zusammen-hang nicht mehr die Rede, denn Haagen war zu diesem schon längst wieder im Westen – unfreiwillig. Für seine neuen sowjetischen Auftraggeber konnte er nichts tun. Am 16. November 1946 wurde er – offenbar mit Fake News - nach Westberlin gelockt und von der britischen Mili­tär­polizei verhaftet. Anfang 1947 wurde er an franzö­si­sche Behörden ausgeliefert. Die überstellten ihn am 16. Mai nach Nürnberg – nicht als Angeklagten, sondern als Zeugen im Ärzteprozess.

In der Befragung schilderte er seine Verbindung zu Buch so:

„In Thüringen in Saalfeld erreichte mich eine Berufung der russischen Militär­re­gie­rung, die Leitung eines neu gegründeten Instituts für Virus- und Geschwulst­for­schung in Berlin zu übernehmen. Dieser Berufung leistete ich Folge und bin dann in diesem Institut, das dem Institut für Medizin und Biologie angegliedert ist, tätig ge­wesen“.

Von Psittacose und ihren Erregern war während des Verhörs keine Rede.

Über seinen weiteren Lebensweg wird an anderer Stelle berichtet. In der Bundesrepublik ließ man den „Mediziner ohne Menschlichkeit“, der von französischen Gerichten zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, dann aber bald begnadigt wurde, nicht nur laufen, sondern auch wieder forschen.

 

Apropos. Als ehemaligen Mitarbeiter des Bucher Institute interessiert mich noch ein anderes, eigentlich marginales Detail aus der Aussage Haagens. Mein langjähriger Kollege und Freund hat sich lange und intensiv mit den Bucher Instituten beschäftigt und in diesem Zusammenhang – wegen der spärlichen Dokumentenlage und noch ohne Kenntnis der Winkleschen Aufzeichnungen nur sehr kurz – mit Haagens kurzlebigem Institut. Leider finde ich in seinem Standardwerk über die Geschichte der Medizinisch-Biologischen Institute Berlin-Buch keinen Hinweis darauf, wann und unter welchen Umständen das von der SMA am 4. Juli 1954 als „medizinisch-biologisches Institut“ der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin übergeben wurde, seinen späteren Namen „Institut[e] für Biologie und Medizin“ bekam. Haagen erwähnte interessanterweise diese Bezeichnung bereits während er in der Zeit vom 17. bis 20. Juni 1947 verhört wurde, also zwei Wochen vor der Übergabe der Einrichtung an die Akademie.