dpa lenkt von Afghanistan ab und verbreitet Fake News
Die Rotation der biologischen Rüstungsspirale ist 2003 mit einem schrecklichen Ende im Irak abgebrochen worden, wieder ausgelöst durch die Fake News der "Operation Curveball".
Zwar gibt es weltweit immer mehr blutige Auseinandersetzungen mit Kampfmitteln aller Art. Aber biologische Waffen spielen dabei keine Rolle – außer wieder in Fake News.


So machte die deutsche Presse zum Jahreswechsel 2020/21 mit Schlagzeilen auf wie „NATO warnt vor Biowaffen“, „NATO verstärkt Biowaffenabwehr, „NATO-Chef gibt Interview zu Biowaffen“. Funk und Fernsehen stießen ins gleiche Horn.
Quelle für diese beunruhigenden Meldungen waren im deutschsprachigen Dienst der Deutschen Presseagentur verbreitetete Versionen eines Interviews, das dpa mit dem Generalsekretär der NATO über die aktuellen Herausforderungen des Bündnisses geführt hatte.
Jens Stoltenberg war damals dabei, das bevorstehende Gipfeltreffen der NATO vorzubereiten. Was auf der Tagungsordnung stehen sollte, hatte Stoltenberg ausführlich am 23. November 2020 vor der Parlamentarischen Versammlung der NATO vorgetragen. Um biologische Kampfmittel oder Bioterrorismus-Sorgen ging es dabei nicht. Auch nicht in den Vorschlägen der von Thomas de Maiziére (mit)geleiteten Expertengruppe „NATO 2030: United for a New Era“, die dem Generalsekretär zwei Tage später überreicht worden waren.
Ein zentrales Thema war dagegen der bevorstehende Rückzug der Allianz aus Afghanistan. Dazu hatte der dpa-Reporter dem Generalsekretär allerdings nur eine, die abschließende Frage gestellt: „Die schwerwiegendste Entscheidung der NATO im Jahr 2021 könnte die zur Zukunft des Einsatzes in Afghanistan werden […] Den militant-islamistischen Taliban wurde ein Abzug aller internationalen Truppen bis Ende April in Aussicht gestellt. Besteht nicht die Gefahr, dass die Taliban sofort wieder ausländische Soldaten angreifen, wenn die NATO entscheiden sollte, dass sie wegen unzureichender Fortschritte im Friedensprozess nicht abzieht?“
Stoltenbergs Antwort war besorgniserregend: „Was immer wir entscheiden, es besteht ein Risiko. Wenn wir uns entscheiden, zu gehen, besteht das Risiko, dass wir die Errungenschaften, die wir bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt haben, wieder verlieren. […] Wenn wir bleiben, besteht die Gefahr, dass wir mehr Kämpfe, Gewalt erleben und in einen langfristigen militärischen Konflikt weiter verwickelt bleiben. […] Es ist ein fragiler Friedensprozess. Es gibt keine Erfolgsgarantie.“
Das übernahm dpa*international und akzentuierte damit auch die Überschrift der englischsprachigen Meldung‘
„NATO’s Stoltenberg on Afghanistan: ‚There is no guarantee of success’ “.
So weit, so gut. Die Agentur gab in ihrem deutschsprachigen Dienst zwei weitere, unterschiedlich ausführliche, von der englischen Version nicht unerheblich abweichende Fassungen des Interviews heraus, in denen Afghanistan im Titel nicht erwähnt wurde. Stattdessen hieß es bei dpa-Ticker: „Stoltenberg: Die Bedrohungen sind noch bedrohlicher geworden“. Und mit völlig anderem Akzent in der „Nachrichtenfassung“:
„Nato verstärkt infolge von Corona-Pandemie die Biowaffenabwehr“.
Das hatte entsprechende Folgen in der journalistischen Aufarbeitung des Interviews: In den teilweise sehr ausführlichen Kommentaren zum Interview geriet Afghanistan völlig in den Hintergrund. In einem Artikel in der Berliner Zeitung über „Die Nato baut ihre Kapazitäten zur Abwehr von Biowaffen aus“ war von Afghanistan überhaupt keine Rede mehr.
Mir fiel das auf. Mit Unterstützung durch Chefredakteur Dr. Michael Maier bemühte ich mich um Aufklärung über die Hintergründe der Schwerpunktverlagerung. Gefragt nach dem Grund, Afghanistan nicht explizit in den deutschen Titeln zu erwähnen, antwortete dpa am 9. April 2021, das habe „nach unserer journalistischen Einschätzung zu diesem Zeitpunkt keinen Nachrichtenwert für den deutschen Dienst“ gehabt, das heißt, für uns deutsche Leser. Keinen Nachrichtenwert? Obwohl 59 Bundeswehrsoldaten dort ihr Leben verloren haben? Obwohl allein der deutsche Einsatz in Afghanistan dem deutschen Steuerzahler allein bis Ende 2018 rund 16,4 Milliarden Euro gekostet hat?


Was hat wen bei dpa getrieben, das Afghanistan-Thema explizit im deutschsprachigen Raum herunterzuspielen? Und was hat wen bei dpa getrieben, statt dessen Fake News bezüglich einer angeblichen Bedrohung durch biologische Kampfmittel zu verbreiten?
Fake News standen zu diesem Zeitpunkt interessanterweise auch schon länger auf der NATO-Liste der aktuellen globalen Bedrohungen, auch Desinformationen, die einen Zusammenhang mit dem neuen Coronavirus und biologischer Kriegsführung herstellten. In einer längeren Studie über „Nato’s approach to countering disinformation. A focus on Covid-19“ war sogar explizit auf russische und chinesische Fake News hingewiesen worden, wonach das Virus als biologisches Kampfmittel entwickelt worden sei.
Stoltenberg wurde aber nicht auf die Bedrohung durch hybride russische Kriegsführung angesprochen – ganz im Gegenteil: Der Vertreter von dpa wollte wissen, und zwar gleich zu Beginn des Interviews: „Die aktuelle Pandemie zeigt, welche verheerenden Schäden ein Virus hervorrufen kann. Ist die NATO darauf vorbereitet, dass sie mit einem Corona-ähnlichen Virus angegriffen werden könnte, das hunderttausende Todesopfer fordert und die Wirtschaft lahmlegt“. (Von den hunderttausend Todesopfern ist in der englischen Fassung allerdings nicht die Rede.)
Stoltenberg antwortete, es handle sich wahrscheinlich um einen Erreger natürlichen Ursprungs, aber der Einsatz biologischer Kampfstoffe sei international geächtet, man sei aber trotzdem auf alles vorbereitet.
Trotzdem treibt es dpa noch auf die Spitze und fragt laut deutschsprachiger Langfassung: „Könnte es zu einem Vergeltungsschlag mit konventionellen oder nuklearen Waffen kommen, wenn ein Angriff mit einer dem Coronavirus ähnlichen Biowaffe klar bewiesen wird?” (Wieder klingt die internationale Fassung weniger aufregend: „So you can’t exclude a retaliatory strike?“)
Stoltenberg meinte daraufhin, es sei schwierig zu spekulieren, aber man sei auf alles vorbereitet.
In der von der Redaktion Politik der dpa verbreiteten Nachrichtenfassung wurde das Ganze noch durch mehrere Schreckensszenarien aufgebauscht. So wird allen Ernstes behauptet, “dass Viren so modifiziert werden könnten, dass sie nur für ausgewählte Menschengruppen tödlich sind – also nur für Schwarze oder nur für Weiße. Ein weiteres Schreckensszenario ist, dass biologische Kampfstoffe von Fanatikern eingesetzt werden, die zum Beispiel denken, dass sich die Welt nur durch eine drastische Verringerung der Bevölkerung vor ihrem Ende bewahren lässt“.
So steht das mitten im fortlaufenden Text des Interviews, wenn auch unter Weglassung der Anführungszeichen, und liest sich wie beunruhigende Vorhersagen des Generalsekretärs. Und so wurde das dann unverändert nachgedruckt.
Gefragt nach den Quellen für solcherart Meldungen berief sich dpa auf Hintergrundgespräche mit Diplomaten und NATO-Experten. Tatsächlich werden seit fünfzig Jahren – seit Einführung der Gentechnik – Befürchtungen geäußert, mit den neuen Methoden und Erkenntnisse könnten vorhandene Biowaffen geschärft oder neuartige, noch gefährlichere geschaffen werden.
Diese Sorge hatte ich zunächst auch geteilt und schon 1984 im Jahr-buch des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts SIPRI artikuliert. Tatsächlich sind nach Inkrafttreten des von Stolten-berg im Interview erwähnten Biowaffenverbotes im Jahre 1975 bis heute insgesamt weniger als einhundert Menschen durch biologische Kampfmittel ums Leben gekommen, die Mehrzahl davon, 66, als Folge eines Lecks in einer sowjetischen Biowaffenanlage in Swerdlowsk. Offenbar wird die Konvention eingehalten und übertriebene Sorgen vor Biowaffen sind unbegründet und werden auch von der Allianz nicht geteilt.
Das geht auch eindeutig aus den offiziellen Materialien des 2021er NATO-Gipfels vom 14. Juni hervor, dessen Vorbereitung Anlass für das Interview war.


Weder in einem einleitenden Gespräch mit Deborah Haynes von Sky News noch in seinem Doorstep Statement erwähnte der NATO Generalsekretär biologische Waffen und/oder Covid-19. Mehrfach und ausführlich ging er dagegen auf die „very difficult situation in Afghanistan“ ein. Und das gab nicht nur Stoltenbergs Meinung wieder:
Auch im Abschlusskommuniqué des Gipfels wird ein einziges Mal von „biological threats“ gesprochen, unspezifiziert, als es um den Kampf gegen Terror ging, und Nordkorea wird aufgefordert, seine Vertrags-verpflichtungen gegenüber „nuclear, chemical and biological warfare“ einzuhalten.
Kein Wunder, dass es auch in der abschließenden Pressekonferenz keine Fragen und Antworten zu einer Bedrohung durch Biowaffen gab – nicht einmal von der Deutschen Presseagentur…
Hundert Jahre lang war der Kampf gegen biologische Waffen fast ausschließlich ein aufwendiger Kampf gegen Windmühlen, getrieben vornehmlich durch Fake News. Vor zwei Jahrzehnten nahm er ein blutiges Ende. 17 Jahre später nahm ihn eine einflussreiche deutsche Nachrichtenagentur wieder auf.