Professor Segals AIDS-aus Fort Detrick Mythos: keine Verschwörungstheorie

Knapp vier Jahrzehnte vor dem Ausbruch von Covid-19 wurde die Menschheit schon einmal durch den Ausbruch einer verheerenden Pandemie erschüttert. Auch AIDS kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Und damals wie heute wurde über den Ursprung der Seuche drauf los spekuliert – von manchen im ehrlichen Bemühen, ein wissenschaftliches und gesundheitspolitisches Problem zu lösen, von anderen mit dem Ziel, Angst und Schrecken auszulösen oder Misstrauen zu säen. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, selbst in der Dritten Welt, vermuteten Experten, der Erreger könne von Affenviren abstammen. Andere mutmaßten, er sei durch einen Laborunfall freigesetzt oder gar gentechnisch konstruiert worden.
Selbst über eine mögliche Entwicklung des AIDS-Erregers als Biowaffe wurde spekuliert. Während die BILD-Zeitung am 27. Dezember 1985 den englischen Facharzt für Geschlechtskrankheiten Dr. John Seale so zitierte: „Die Sowjets haben Aids als ideale Waffe zur Vernichtung der westlichen Welt gezüchtet“, hieß es am 30. Oktober 1985 in der Moskauer Literaturnaya Gazeta, HIV sei im Auftrag des Pentagon in Südafrika (oder in Südamerika) isoliert und dann in den USA gezüchtet und – wohl unbeabsichtigt – freigesetzt worden.
In Washington vermutete man sofort, der sowjetische Geheimdienst KGB habe den Artikel in der Literaturnaya Gazeta lanciert. Mit dieser Vermutung lagen sie richtig: Sieben Wochen vor Erscheinen des Artikels hatte der KGB den bulgarischen Geheimdienst informiert, dass man damit begonnen habe, die Behauptung zu verbreiten, dass AIDS „ein Resultat außer Kontrolle geratener geheimer Experimente der Geheimdienste der USA und des Pentagon mit neuen Arten biologischer Waffen ist“. Damit sollte „eine für uns günstige Meinung im Ausland“ erzeugt werden. Allerdings erwies sich die Desinformationskampagne als kontraproduktiv. Da sie sowohl gemeinsame Abrüstungsbemühungen als auch die bilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen (nicht zuletzt bei der AIDS-Bekämpfung) erheblich beeinträchtigte, wurde sie nach dem Gipfeltreffen von Außenminister Shultz und Generalsekretär Gorbatschow im Oktober 1987 in Moskau eingestellt.

Trotzdem war der Geist aus der Flasche: die AIDS-aus-Fort-Detrick-Behauptung waberte weiter, zumal sie nicht nur vom KGB verbreitet worden war. Auch einige Wissenschaftler waren auf diese Idee gekommen, nicht weil sie Verschwörungstheoretiker waren und die USA diskriminieren wollten, sondern bei der Suche nach der Wahrheit. Die Herkunft des AIDS-Erregers war für sie kein Thema der (psychologischen) Kriegsführung sondern Gegenstand der Forschung. Jakob Segal, der emeritierte Direktor des Instituts für Allgemeine Biologie der Humboldt-Universität gehörte dazu. Der war als Wissenschaftler an der Herkunft des neuartigen Erregers interessiert und wollte dann seine Erkenntnisse auch verbreiten, und zwar nicht klandestin, sondern mit offenem Visier, unter Namen und Adresse.
Angeregt, sich mit der neuen Seuche und ihrem Ursprung zu beschäftigen, wurden Segal und seine Frau Lilli unter anderem durchs „Westfernsehen“. Am 24. Juli 1985 war es in der ARD um AIDS gegangen. Dessen Erreger sei vielleicht ein entarteter Abkömmling eines offenbar ähnlichen Affen-Virus gewesen. Das war im gleichen Jahr bei Afrikanischen Grünen Meerkatzen entdeckt worden. Segals Interesse war geweckt, und seine Skepsis. In einem Interview erklärte er später, als „im Fernsehen und in den Massenmedien die Theorie verbreitet wurde, AIDS sei dadurch entstanden, dass ein an sich harmloses Virus, das in dem berühmten grünen Affen … schmarotze, durch Biss auf den Menschen übertragen wurde und sich im Menschen in ein AIDS-Virus verwandelt habe, kam mir das biologisch so unwahrscheinlich vor, dass ich beschloss, nachzuforschen.“ Vielmehr glaubte er, der AIDS-Erreger müsse gentechnisch hergestellt worden sein, und zwar im US-Biowaffeninstitut in Fort Detrick.
Für Imperialisten-Hasser Segal und seine Frau Lili war das der Start eines neuen Projektes. Bereits am 3. Oktober 1985 wurde es erst-mals in einem Privatbrief erwähnt. Aber während es den Desinformanten vom KGB nicht um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, sondern um Desavouierung der USA ging, war der Physiologie-Professor Segal - weder Genetiker noch Virologe - selbs-kritisch genug, um sich Expertenrat einzuholen, und zwar „im Westen“, bei dem Kölner Molekulargenetik-Professor Benno Müller Hill. Der war äußerst skeptisch. Im Verlauf eines mehrmonatigen Briefwechsels äußerte er immer wieder Kritik an Segals Behauptungen. Schließlich beendete der Kölner Genetiker am 2. April 1986 die Korrespondenz mit der Empfehlung: „Gerade weil das von Ihnen vermutete (nicht bewiesene) Verbrechen so groß ist, ist es meiner Ansicht nach unverantwortlich, die in vitro Rekom-bination in Fort Detrick aus den von Ihnen vorgelegten Daten als bewiesen anzusehen und damit an die Öffentlichkeit zu treten.“

Segal, erheblich kritikresistent, folgte diesem Rat allerdings nicht und suchte doch die Öffentlichkeit. Er verschickte Maschine geschriebene Manuskripte mit seinen Thesen buchstäblich in die weite Welt, einschließlich Afrika, BRD, Israel, Japan und die USA. Ab August 1986 standen sie schwarz-auf-weiß zur Verfügung: in einer primitiven hektographierten Broschüre, die im Presseraum der VIII. Konferenz der Blockfreien Staaten in Harare ausgelegt wurde.
Trotz ihres reißerischen Titels AIDS: USA – home made evil; NOT imported from AFRICA fand das Heft zunächst aber kaum Beachtung. Auch in den Materialien der Konferenz findet es oder sein Inhalt keine Erwähnung.
Weltweites Aufsehen erregte dagegen ein Interview Segals durch Alfred Lee vom Londoner Sunday Express am 26. Oktober 1986. Die Resonanz auf den "AIDS sensation" betitelten Text war beachtlich. In der Washington Post registrierte man: „Innerhalb von Stunden widmeten Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen von der Ostsee bis zum Mittelmeer und vom Atlantik bis zum Pazifik der Meldung große Beachtung. Die Schlagzeile der Canberra Times lautete ‚AIDS von US-Wissenschaftlern geschaffen’. La Stampa und andere italienische Tageszeitungen brachten den Bericht auf Seite 1. Ethnos, die zweitgrößte Tageszeitung Griechenlands druckte den Sunday Express-Artikel vollständig nach“.
Auch die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II des MfS beschaffte sich ein Exemplar und ließ sogar eine Arbeitsübersetzung fertigen. Das löste aber offensichtlich keine weiteren Aktivitäten aus, sondern landete im Archiv.


In Deutsch erschienen Segals Thesen erstmals in einem langen Interview, das Stefan Heym mit ihm im November 1986 geführt hatte. Der wortgewaltige, dissidentische Schriftsteller war damals in der Bundesrepublik noch sehr angesehen - trotzdem waren weder ZEIT (für die Heym eigentlich das Gespräch vorgesehen hatte) noch Quick, SPIEGEL oder Stern bereit, es zu veröffentichen. Schließlich erschien es im Februar 1987 in der TAZ – gegen die Empfehlung des Wissenschaftsredakteurs. Der schob an-schlies-end gleich eine Reihe sehr kritischer Stellungnahmen zu Segals Thesen nach, vom amerikanischen Gesandten in Westberlin John Kornblum bis zum AIDS-Berater der Bundesrepublik Meinrad Koch.

Bald folgten weitere Veröffentlichungen Segals, allerdings nicht in Fachzeitschriften und auch nicht in der DDR. Dort durften seine Thesen auf Entscheidung von SED-Politbüromitglied Kurt Hager nicht veröffentlicht werden.
In einer vom Gesundheitsminister einberufenen geheimen Konferenz distanzierten sich DDR-Experten am 21. November 1986 von Segals Vorstellungen. Daraufhin reagierte man auch im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auf die Aktivitäten des Professors. Mehrere Abteilungen des MfS wurden am 19. Dezember 1986 unterrichtet, die zuständigen Experten der DDR seien der Meinung, „dass die Behauptung Segals wissenschaftlich und medizinisch nicht haltbar ist“. Und in der Berliner Bezirksbehörde des MfS hieß es in einem ausführlichen Kommentar: „Es gibt keinen einzigen echten Beweis für alle Behauptungen von Segal, aber auch in vielen Details eindeutig falsche Darstellungen seinerseits [...]. Die Wirkung der Aktivitäten von Prof. Segal wird als ausgesprochen negativ eingeschätzt, als gegen die Entspannung gerichtet. Es geht nicht darum, dass die USA nicht bereit wären, derartige Experimente durchzuführen, sondern dass man einen solchen Vorwurf beweisen muss. Da das nicht der Fall ist, richtet sich die ganze Angelegenheit schnell gegen uns“. Es wurde sogar erwogen, ob und wie man Segal stoppen könne.

Zur gleichen Zeit erkannte man in der Partei- und Staatsführung, dass sich AIDS auch in der DDR „zu einem ernsten Problem entwickeln“ könnte. Angesichts der begrenzten Forschungskapazitäten und des maroden Gesundheitswesens war man zur Bekämpfung des neuartigen Syndroms auf potente Kooperationspartner angewiesen, beispielsweise auf die USA. Dort war man zur Zusammenarbeit durchaus bereit, die stellvertretende Außen-ministerin Rozanne L. Ridgway kam am 24. Juli 1987 eigens nach Ostberlin. Aber sie machte auch deutlich, die Beteiligung der DDR „an der sowjeti-schen Desinformationskampagne“ könnte eine mögliche Kooperation stören. Damit war Segals fortgesetzte Publikationstätigkeit gemeint. In der US-Administration war man nämlich zunächst fälschlicherweise davon überzeugt, dass Segal nicht auf eigene Hand agierte sondern der wissen-schaftliche Experte des KGB war. Die Amerikaner konnten ja nicht wissen, dass er unabhängig und abwei-chend vom KGB seinen eigenen Aufklärungs-feldzug betrieb. Sie wussten zunächst auch nicht, dass nahezu alle zuständigen Kreise der DDR seinen Thesen ablehnend gegenüberstanden, dass sie aber auf seine immer inten-siver werdenden Aktivitäten im Ausland keinen Einfluss hatten, denn Segal war sowjetischer Staatsbürger.
Nachdem Segal aber unbeirrt weiter publizierte, auch nach Zusage der sowjetischen Führung, die Kampagne einzustellen, verloren die Amerikaner ihre Geduld. Am 29. Dezember 1987 beschwerte sich dann der US-Botschafter Francis J. Meehan im Außenministerium (MfAA) persönlich.

Man sei "besorgt über eine weltweite Desinformationskampagne gegen die USA, die ihre Quelle in der DDR habe in Gestalt von Ausführungen von Prof. Segal“. Im MfAA reagierte man sofort und erkundigte sich in der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED und im Gesundheitsministerium.
Das Ergebnis war eindeutig. Bereits am 7. Januar 1988 teilte des MfAA den USA verbindlich mit: Segals „Position, dass der AIDS-Virus gezüchtet und außer Kontrolle geraten ist, ist nicht die offizielle DDR-Position“.
Aber Segal machte weiter.

Daneben versuchten ein paar Offiziere der für Desinformationen und ähnliche „aktive Maßnahmen“ verantwortlichen Abteilung Zehn (X) der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS auf den fahrenden Zug aufzuspringen, ohne die ablehnende Haltung der – dem MfS ja übergeordneten – Partei- und Staatsführung oder die Kritik der Experten zu berücksichtigen. Selbst die negative Einschätzung der Berliner Bezirksbehörde des MfS blieb unbeachtet. Im September 1986 hatten sie dem bulgarischen Geheimdienst vorgeschlagen, auch eine AIDS-Desinformationskampagne zu führen. Wie beim KGB ging es dabei nicht um die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um Diversion. Vielleicht sind sie dazu von den Sowjets angestiftet worden, aber warum haben sie dann erst neun Monate später begonnen, diesbezügliche Aktivitäten zu planen?
Als die Aktivitäten der HV A/X im Sommer 1987 endlich in Gang kamen, erwiesen sie sich als ausgesprochene Luftnummer. Erstens waren die bulgarischen Geheimdienstler längst über die KGB-Kampagne informiert. Zweitens waren die – im Detail deutlich unterschiedlichen – Thesen des KGB und der Segals längst publiziert. Tatsächlich beschränkte sich die Stasi-Operation zunächst auf die Übergabe von Druckschriften, die auch frei im Handel erhältlich waren, zumindest im Westen, unter anderem der Sammelband AIDS Erreger aus dem Genlabor? Der war allerdings nicht zur uneingeschränkten Propagierung der Segalschen Thesen geeignet. Wie man in einer anderen Abteilung des MfS schon bei der Vorbereitung dieser Publikation herausgefunden hatte, enthielt sie zwar die Segalsche Manuskriptvorlage für das Pamphlet, aber auch „Beiträge kompetenter Wissenschaftler gegen die Ansichten Segals“. Andererseits schafften es die MfS-Aktivisten nicht einmal, Segals Thesen im eigenen Land zu verbreiten.
Vielleicht merkten die Offiziere der Abteilung X schließlich selbst, dass sie ihre bulgarischen Partner mit veröffentlichten Texten nicht beeindrucken konnten. Ab 1988 behaupteten sie, sie hätten eine westdeutsche TV-Produktion, die AIDS – die Afrikalegende, klandestin in Auftrag gegeben und teilfinanziert. Die Behauptungen sind allerdings anfechtbar und werden von den Filmemachern entschieden bestritten. Trotzdem werden sie in einer BStU-Broschüre nicht nur unreflektiert übernommen sondern sogar als „die vielleicht anspruchsvollste Maßnahme der HV A/X“ im Rahmen der AIDS-Kampagne gepriesen.
Sollten die HV A/X-Leute aber tatsächlich Geld der Devisen-klammen DDR in den Film gesteckt haben, dann haben sie keinen Coup gelandet, sondern ein Eigentor geschossen. Denn die Segals stehen alles andere als „im Mittelpunkt des Films“. Neun weitere Interviewpartner kamen zu Wort. Keiner von denen teilte die Segalschen Behauptungen. Folgerichtig wurde der Film bei seiner Erstausstrahlung am 3. Januar 1989 vom WDR so kommentiert: „Das Ergebnis des Films also: Legende, alles Legende wenn jemand behauptet, er wisse wo das AIDS Virus herkommt. An der Wahrheit kann nur der nicht interessiert sein, der mit Schuld an der Entstehung trägt, falls es Schuld an der Entstehung des Virus überhaupt geben sollte, und auch da ist nichts bewiesen“.
Also: Nicht nur die KGB-Kampagne war kontraproduktiv und wurde nach zwei Jahren wieder abgebrochen; auch die angestrebte Aktion einiger Offiziere der HV A/X lief völlig ins Leere. Aber die Desinformationen hörten auch nach dem Zusammenbruch der DDR und der Auflösung des MfS nicht auf: Segal verbreitete seine Überzeugungen standhaft weiter und nahm sie 1995 mit ins Grab – auch als längst bewiesen war, daß der AIDS-Erreger von Affenviren abstammt und schon vor mehr als hundert Jahren in die menschliche Population eingedrungen war.
Was aber dann trieb Segal also wirklich an, seine abstruse Theorie weiter zu verteidigen, wenn er nicht Sprachrohr von KGB und/oder Stasi war? Die Erklärung liegt in seiner Persönlichkeitsstruktur. Ein Beispiel mag dies gut belegen: Als ihm in einem Interview von Monika Maron vorgehalten wurde, ein exklusiv vom ihm entwickeltes und propagiertes Strukturmodell der Eiweißkörper werde von der Mehrzahl der Experten nicht anerkannt, ließ ihn das kalt:
„Wissen Sie, man muss da schon einen gewissen Hochmut haben und sich sagen: Erstens: Ich habe Recht. Zweitens: Ich habe sieben Nobelpreisträger gegen mich, trotzdem habe ich Recht. Drittens: Die anderen irren sich. Es kann zweihundert Jahre dauern, ehe sie das verstehen, aber ich habe Recht.“
Der damalige Direktor des Instituts für Virologie der Charité Hans-Alfred Rosenthal gab dem MfS zu Protokoll: „Prof. Segal leidet an der zwanghaften Vorstellung, stets eine andere Meinung vertreten zu müssen, als die gängige Lehrmeinung. [... Er] verkündet seine Theorien als absolute Wahrheiten, auch wenn sich die Unhaltbarkeit längst erwiesen hat“. In der Berliner Bezirksbehörde des MfS wurde in diesem Zusammenhang notiert, Segal sei „durch wissenschaftlich nicht haltbare Theorien“ aufgetreten. Das hätte auch schon früher zu ständigen Auseinandersetzungen Anlaß gegeben. Das habe sogar zu internationalen Protesten geführt. Beispielsweise sei er nach einer Beschwerde der Biochemischen Gesellschaft Großbritanniens aus der Biochemischen Gesellschaft der DDR ausgeschlossen worden, „wegen Verunglimpfungen von Nobelpreisträgern“.
Nein, die von einigen wenigen unbotmäßigen MfS-Offizieren angezettelte AIDS-Verschwörung blieb ein Papiertiger während ein fanatische Eigenbrötler zehn Jahre lang über Wende und Tod hinaus einflußreicher Akteur war und noch heute posthum gelegentlich für Fake-News-Schlagzeilen sorgt.