Fake News lösen Hitlers Biowaffen-Verbot aus
Zeugenaussagen zufolge war Hitler vor und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs trotz aller massiven Aufrüstungsaktivitäten gegen biologische Kriegsführung, vielleicht, weil sich einflussreiche Militärs und führende Wissenschaftler dagegen ausgesprochen hatten.
Erst während der Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion, am 5. Juni 1941, zeigte sich Hitler besorgt darüber, „dass der Gegner in weitgehendem Maße die Mittel der heimtückischen Kriegsführung anwenden wird“. Beim Oberkommando des Heeres verstand man darunter auch „Bakterienkrieg (Pest, Cholera, Typhus)“. Davor wurde dann in mehrseitigen Merkblättern gewarnt.


Trotzdem entschied Hitler ein Jahr später, „dass unsererseits Vorbereitungen für einen Bakterienkrieg nicht zu treffen sind.“ So informierte der für biologische Kriegsführung zuständige General der Nebeltruppen Hermann Ochsner am 23. Mai 1942 in einer geheimen Kommandosache.
Dieses wichtige Dokument hatte die sogenannte Alsos-Mission 1945 zusammen mit vielen ande-ren, den bakteriologischen Krieg betreffenden Unterlagen, im Keller eines Klosters im bayerischen Niederviehbach entdeckt.
Meines Wissens wurde dieses Dokument erstmals von den Militärhistorikern Rudibert Kunz und Rolf-Dieter Müller 1989 in der Wochenschrift DIE ZEIT veröffentlicht. Warum Hitler diese unerwartete Entscheidung getroffen hatte, vermochten weder sie noch spätere Kommentatoren erklären.
Ich zunächst auch nicht. In meiner umfangreichen Studie über Biologische Waffen – nicht in Hitlers Arsenalen stellte ich 1998 die Angelegenheit auf Seite 353 so dar:

Aber die Einleitung meiner Darstellung war falsch: Nicht „obwohl“ sondern „weil“ der deutsche militärische Nachrichtendienst falsche Informationen erhalten hatte, traf der Diktator seine Entscheidung, die Falsch-meldung war der Auslöser. Das ergibt sich ersten aus dem Betreff am Anfang von Ochsners Geheimer Kommandosache und zweitens aus der Bemerkung, der Befehl sei „nach Vortrag des Herrn Chef OKW“ ergangen. Der Chef des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, war wegen eines angeblich bevorstehenden gegnerischen Einsatzes von Kartoffelkäfern bei Hitler vorstellig geworden.

Dass ihre Kriegsgegner den Einsatz von Kartoffelkäfern als Kampfmitteln erwogen, registrierten die Deutschen spätestens 1940 nach der Einnahme des französischen Biowaffen-Instituts in Vert-le-Petit bei Paris.
Deshalb nahmen sie einen Agentenbericht sehr ernst, der beim April 1942 beim mili-tärischen Nachrichtendienst, dem Amt Ausland/Abwehr, eingegangen war. Von der amerikanischen Armee seien unter anderem Versuche mit Kartoffelkäfern durchgeführt worden. „Durch den Insektenkrieg verspricht man sich in kurzer Zeit viel mehr durch Schädigung der Nahrungsversorgung als durch Bakterienübertragung. Einsatz. daher bei Insekten bald wahrscheinlich, bei Bakterien dagegen nicht“.
Dem Bericht zufolge sei ein B-24 Überführungsbomber mit etwa 15.000 Kartoffelkäfern über Neufundland nach England unterwegs. In der zweiten Aprilwoche folge eine weitere Sendung. Zwei Quellen zufolge stehe der Abwurf großer Mengen Kartoffelkäfer sehr bald bevor.
Das waren Fake News. Um Kartoffelkäfer ging es im Biowaffenprogramm der USA nicht. Aber das konnten die Deutschen nicht wissen. Obwohl auch weitere Geheimdienstinformationen über angebliche Vorbe-reitungen zum Einsatz von Kartoffelkäfern gegen Deutschland eingingen, gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass in den USA oder bei ihren Verbündeten Kartoffelkäfer als potentielle BW-Mittel bearbeitet oder gar massenweise gezüchtet wurden.
Der Bericht wurde überaus ernst genommen. Der mit der „Bearbeitung aller Fragen des B-Krieges“ beauftragte Oberkriegsarzt Professor Heinrich Kliewe beriet sich mit Experten und teilte der Abwehr am 14. Mai 1942 mit, Kartoffelkäfer könnten tatsächlich erheblichen Schaden anrichten.
Daraufhin wurde die Meldung bis ganz nach oben weitergereicht, an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel. Und der informierte Hitler. Und das löste Hitlers überraschende Entscheidung aus.
Mit anderen Worten: Hitlers gravierende Entscheidung gegen deutsche Vorbereitungen zur aktiven biologischen Kriegsführung wurden augenscheinlich durch durch Fake News ausgelöst - ein Treppenwitz der Weltgeschichte...

Der schwerwiegende Beschluss wurde sofort auch im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht festgehalten. Am 23. Mai 1942 wurde notiert: "Vorbereitungen für die Abwehr eines B.-Krieges, hingegen Verbot der Vorbereitungen für den Angriff auf Befehl des Führers. (GenStdH/Gen.f.Nb.Tr.(Ib) Nr.297/42 g.Kdos. v. 23. 5. 42)."
Hitler hielt an dieser Entscheidung bis zum Kriegsende fest und artikulierte sie mehrfach - trotz zahlreicher Versuche, ihn umzustimmen. Unter anderem wies der Chef der Organisationsabteilung des Wehrmachtführungsstabs auf einer Sitzung des B-Schutz-Komitees am 21. Juli 1943 auf das "Verbot der aktiven Einführung bakteriologischer Waffen durch den Führer" hin. An dieser Sitzung nahm auch Generalarzt Schreiber teil. Der behauptete später auf dem Nürnberger Prozess wahrheitswidrig das Gegenteil.
Nicht einmal durch Agenten durften biologische Kampfmittel eingesetzt werden - womit die Deutschen ja im Ersten Weltkrieg ja unbeabsichtigt die biologische Rüstungsspirale in Gang gesetzt hatten und was dann im Zweiten Weltkrieg zumindest von Partisanen durchaus praktiziert wurde. Im Kriegstagebuch findet sich dazu eine ausführliche Notiz vom 23. Februar 1943:

Zwar hinderte das Hitler-Verbot einige Fanatiker nicht, über den Einsatz solcher Käfer gegen England nachzudenken und – unter dem bekannten Vorwand, man müsse gegnerische Einsatzmöglichkeiten kennen um sich wirksam dagegen wappnen zu können – entsprechende Feld-Versuche durchzuführen. Aber glücklicherweise kamen die Käfer oder andere biologische Kampfmittel nicht nicht zum Einsatz. Das hätte nämlich verheerende Folgen gehabt. Die Angloamerikaner, die einen deutschen Biowaffeneinsatz für durchaus möglich hielten, hätten sofort mit Gegenmaßnahmen reagiert. Fünf Millionen Stück „cattle cakes“, wohlschmeckendes, mit Milzbrandbakterien munitioniertes Rindertrockenfutter, standen zum Einsatz bereit. Und das hätte dann wiederum verheerende deutsche Reaktionen mit chemischer Kriegsführung ausgelöst.

Die Gründe für Hitlers Entscheidung sind leider unbekannt und werden sich wohl nie mehr eindeutig ermitteln lassen. Nach jahrelangen sehr intensiven Recherchen habe ich die Vermutung geäußert und

ausführlich begründet, dass der Diktator wohl gleichzeitig von drei ganz unterschiedlichen Motiven beeinflusst war: durch völker-rechtliche Vertragstreue, aus Angst vor gleichartiger Vergeltung durch die Kriegsgegner und durch seine ausgeprägte Bakte-riophobie. Auf die hatten bereits Kunz und Müller vor 35 Jahren in ihrem ZEIT-Artikel hingewiesen.
