Desinformation durch Unterlassung

Als ich nach Abschluss des Vaccines-for-Peace-Projektes - wieder mit Unterstützung durch die Volkswagen- Stiftung – damit begonnen hatte, die Geschichte der biologischen Kriegsführung zu erkunden, hoffte ich, auch in den Unterlagen der Nürnberger Prozesse wertvolle Hinweise zu finden. In der fünfbändigen monumentalen SIPRI-Studie The Problem of Chemical and Biological Warfare war von dem führenden britischen Experten Julian Perry Robinson unter anderem die Aussage von Generalarzt Schreiber über Vorbereitungen zur bakteriologischen Kriegsführung. LINK Deshalb fuhr ich für einige Wochen nach Nürnberg, um im dortigen Staatsarchiv Einsicht in das dort archivierte maschinegeschriebene Prozessprotokoll zu nehmen.

In den Materialien des Hauptprozesses stieß ich lediglich auf Schreibers fast unwidersprochen hingenommene Falschaussage und auf das hinsichtlich angeblicher deutschen Biokriegsvorbereitungen ergangene Fehlurteil. Und verwundert stellte ich fest, dass die sowjetischen Prozessvertreter die Einzigen waren, die das mich interessierende Thema überhaupt ansprachen, obwohl sie dank der erfolgreichen "Alsos"-Mission in den Besitz von Tausenden deutschen Dokumenten zur Biokriegsführung gekommen waren.

Mehr Informationen erhoffte ich mir von den Dokumenten des „Ärzte-prozesses“. Der fand im Anschluß an das Hauptverfahren vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 statt und wurde ausschließlich von den Amerikaners geführt. Aber auch hier waren nur relativ wenig Informationen zum Thema biologische Kriegsführung zu finden. 

Der beste deutsche Sachkenner der Materie, der mit der „Bearbeitung aller Fragen des B-Krieges“ beauftragte Oberkriegsarzt Professor Heinrich Kliewe, war nur als Zeuge gehört worden, aber nicht zur Biokriegsproblematik, sondern um Blome von dem Vorwurf zu entlasten, Menschenversuche durchgeführt zu haben. Das Verhör fand nicht einmal im Gerichtssaal statt, sondern sogar außerhalb Nürnbergs. Am 7. Februar wurde er von einem Notar in Mainz, befragt.

 

Trotzdem wurden auf dem Ärzteprozess zahlreiche wertvolle Informationen über die deutschen Biowaffen- und B-Schutz-Aktivitäten vermittelt.

Zusammen mit den Alsos-Dokumenten erlaubten sie mir, 1998 eine detaillierte, umfangreiche Darstel-lung darüber zu veröffentlichen, dass Biologische Waffen – Nicht in Hitlers Arsenalen Platz fanden und nicht eingesetzt wurden.

 

Erst während meiner Recherchen erfuhr ich, dass die US-Administration bereits 1952 eine  Fassung der Protokolle des Ärzteprozesses veröffentlicht hatte, von dem ein Exemplar sogar in Berlin, im „Berlin Document Center“ eingesehen werden konnte. The Medical Case – Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No 10, 1-2 (Washington, DC) war angeblich nur unwesentlich gekürzt: Die Herausgeber informierten einleitend, ihre Edition enthalte „wichtige Teile der Unterlagen der zwölf Prozesse und es ist anzunehmen, dass diese Materialien ein faires Bild von den Prozessen vermitteln“.

Hätte ich mir die Reise nach Nürnberg sparen können?

 

Nein, es war gut, dass ich im Nürnberger Staatsarchiv Einblick in die originalen Prozessprotokolle genommen hatte. Denn, als ich später, während der Fertigstellung meines Buchmanuskriptes Einsicht in das gedruckte Protokoll nehmen konnte, musste ich feststellen, dass alle während des Ärzteprozesses gegebenen Informationen bezüglich der deutschen Aktivitäten auf dem Biowaffengebiet bei der Drucklegung stillschweigend entfernt worden waren.

Das war Desinformation durch Unterlassung, durch Zensur.

Das Thema „biologische Kriegsführung“ wird in der gedruckten Ausgabe nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar in der Urteilsbegründung. Makabrer Weise erfolgte dies explizit unter Berufung auf Schreibers Falschaussage und auf das Fehlurteil des Hauptprozesses. Dass der von den Sowjets vorgeführte Hauptbelastungszeuge gelogen hatte, und dass wegen Hitlers Weisung auf dem europäischen Kriegsschauplatz biologische Kampfmittel nicht zum Einsatz kamen – das wurde von den US-Amerikanern, sicher in Abstimmung mit ihren britischen und kanadischen Verbündeten, vor der Weltöffentlichkeit verschwiegen.

Tatsächlich enthielten die von der US-Zensur gestrichenen Passagen des Originalprotokolls zahlreiche wichtige Informationen zur Wirksamkeit des Hitler-Verbotes und/oder zum Wahrheitsgehalt Schreibers Behauptungen.

Schreiber hatte gesagt: „Es sind Versuche in dem Institut in Posen vorgenommen worden“. Und es habe „Einrichtungen für Menschenversuche“ gegeben, die „als solche kenntnis waren“.

Dagegen erklärte der Chef der Einrichtung Kurt Blome auf dem Ärzteprozess, „nein, es ist dort nicht gearbeitet worden“ , man habe dort „noch nicht einmal einen Brutschrank“ gehabt. Von Polnischer Seite wurde das amtlich bestätigt.


Weiter hatte der sowjetische Kronzeuge behauptet, nach Vorrücken der Roten Armee habe Blome versucht, „mit seinen Pestkulturen, die er gerettet hatte, in der Sachsenburg“ weiterzuarbeiten.

Auch das wurde von Blome im Kreuzverhör bestritten. „Auf der Sachsenburg bin ich niemals gewesen, ich kenne sie gar nicht. Dort hätten keine Versuche in seinem Auftrag gemacht werden können Nicht einmal Tierversuche“.

Und aus der Angaben, die der Direktor des Hygiene-Instituts der Waffen-SS Dr. Joachim Mrugowsky auf dem Ärzteprozess gemacht hatte, geht hervor, dass die von Schreiber in seiner Aussage erwähnten Menschenversuche mit Fleckfieberimpfstoffen nicht in dem Institut in der Sachsenburg durchgeführt worden sind, sondern im KZ Buchenwald.

Unterschlagen wurde unter anderem auch folgende aufschlussreiche Informationen zum Hitler-Verbot und zu Versuchen, das zu unterlaufen:

  • Oberstarzt Professor Gerhard Rose, des Vertreter der Luftwaffe im „Blitzableiter-Komitee“, sagte aus, dass jedes Mitglied dieses B-Schutz-Komitees „bei seinem Eintritt durch Unterschrift bescheinigen musste, dass er Kenntnis genommen habe von einem grundsätzlichen Führerbefehl und dieser Führer-befehl lautete, dass es verboten sei, selbständigerweise sich mit den Möglichkeiten eines offensiv biologischen Krieges zu befassen.“
  • Dass Rose außerdem erklärt hatte, er habe der Arbeitsgemeinschaft Blitzableiter bis zum Kriegsende angehört und wisse daher, „dass dieser Führerbefehl niemals aufgehoben worden ist“. [Arsenale S. 366]
  • Dass in den Aussagen mehrfach Heinrich Himmlers großes Interesse an biologischer Kriegsführung erwähnt wurde. Dieser habe es Blome gegenüber ausdrücklich bedauert, „dass man die Fragen der biologischen Kriegsführung nicht schon vor Jahren in Angriff genommen hätte“. Im Sommer 1943 habe „Himmler auch die Sprache auf einen biologischen Angriffskrieg Deutschlands“ gebracht. Er, Blome, habe dagegen auf das von Hitler wiederholt ausgesprochene Verbot hingewiesen. 
  • Dass Himmler Rose gegenüber im Frühjahr 1944 davon gesprochen habe, dass man für den Fall gegnerischer Biowaffenangriffe Vergeltungsmaßnahmen mit „biologischen Kriegsmethoden“ vorbereiten solle. Blome habe dazu erklärt, darauf nicht vorbereitet zu sein. Dazu würde er „einen besonderen Führerauftrag benötigen. Ich wüsste aber genau so gut wie Himmler, dass Hitler alle Offensivvor-bereitungen verboten hätte“. 

All das wurde während des Ärzteprozesses nicht weiter hinterfragt, im Urteil nicht berücksichtigt, und in der gedruckten Ausgabe verschwiegen.

Zugegeben, ich war darüber nicht besonders überrascht. Schon aus den Dokumenten, die mir mein japanischer Kollege Kei-Ishi Tsuneishi 1985 zur Vorbereitung meines ersten SIPRI-Buches zur Verfügung gestellt hatte, wusste ich, dass die US-Administration auch über die japanischen Biowaffenaktivitäten den Mantel des Schweigens gehüllt hatten.

Am 24. Juli 1946 erließ das Kriegsministerium eine geheime Weisung: „Unter den gegenwärtigen Umständen dürfen Geheimin-formationen über Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten auf den Gebieten von Wissenschaft und Kriegsführung keiner anderen Nation außer dem Britischen Common-wealth (mit Ausnahme von Irland) ohne Bezug auf und Genehmigung durch    die Vereinigten Stabschefs weitergegeben werden“.

Über die japanischen Biowaffenaktivitäten vor und während des Zweiten Weltkriegs ist an anderer Stelle berichtet worden. Sie beschränkten sich nicht nur auf Forschungs-, Entwicklungs- und Produktions-aktivitäten, sondern schlossen auch entsprechende Experimente am Menschen sowie sogar den aktiven Einsatz biologischer Kampfmittel ein.

Japanische Akteure, Überreste von Einrichtungen und Unterlagen fielen sowohl den amerikanischen als auch den sowjetischen Truppen in die Hände. Die Sowjets hatten keine Hemmungen, vom 25. bis 30. Dezember 1949 in Chabarowsk einen Prozess gegen Former Servicemen of the Japanese Army Charged with Manufacturing and Employing Bacteriological Weapons zu führen und in englischer Sprache sofort zu dokumentieren. 

Während der Vorbereitung des Prozesses ersuchten sie sogar amerikanische Unterstützung.

 

Die Amerikaner waren aber schon dabei, in großem Umfang Gebrauch von den Erkenntnissen der japanischen Experten zu machen, diese sogar zum Teil selbst in Dienst zu stellen. Und deshalb waren „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ nicht bereit, ihre Informationen freizugeben. Sie verzichteten sogar darauf, die ihnen in die Hände geratenen Japaner, nicht einmal solche, die Menschenexperimente vorgenommen hatten, vor Gericht zu stellen.

Auf dem Tokioter Kriegsverbrecherprozess, der vom 3. Mai 1946 bis zum 4. November 1948 stattfand, kamen Biowaffenaktivitäten so gut wie nicht zur Sprache. Die Ergebnisse des Chabarowsker Verfahrens dagegen wurden öffentlich „als Quatsch“ diskreditiert und in Zweifel gezogen.